Eine Reihe stiller Jahrestage

 

10. Oktober 2016.

 

Seit 365 Tagen schwebt mir dieses Datum im Hinterkopf, wie ein böser Geist. So lange hat es sich schon in meinen Gedanken festgesetzt, wie eine hungrige Zecke, die mich nicht loslassen will.

 

Mit diesem Tag im Oktober hat alles begonnen, alles seinen Lauf genommen. Es ist der Tag, von dem man sich im Nachhinein wünschte, nie aus dem Bett aufgestanden zu sein, oder dass er zur Gänze anders verlaufen wäre. Wie aus dem Hinterhalt hat er uns mit seinen Geschehnissen überfallen, uns aus unseren Grundfesten gerissen, unsere ganze Welt komplett auf den Kopf gestellt. Aber völlig anders, als man es sich vorstellen würde, wenn man ein Baby erwartet und gerade die 12. Schwangerschaftswoche beendet hat. Denn eigentlich ist dann alles bunt und fröhlich und nicht schwarz und grau.

 

Ist das Baby erst einmal auf der Welt ist nichts mehr wie es vorher war, heißt es so schön. Doch wie ist es, wenn das Baby erst einmal tot ist? Wie ist dann der Vergleich zum Leben, das man vorher gelebt hat? Viele Mütter, deren Kinder gestorben sind sagen, dass sie nicht mehr die selben Menschen sind, wie vor dem Verlust.

 

Ich denke ich bin immer noch der selbe Mensch, nur mein Leben, das ist ein völlig anderes. Es ist ein Leben, mit einem Riss, ein Leben, wo so viele Seiten fehlen, wie in einem verstaubten, alten Buch, das man irgendwo auf einem Dachboden findet und das eine Geschichte erzählt, die man besser nicht gelesen hätte. Und dessen Beginn datiert ist, auf den 10. Oktober 2016.

 

Es ist ein Leben mit einem leeren Babyalbum, mit Seiten wie "mein erster Zahn, "mein erstes Wort" und "meine ersten Schritte", die für immer unausgefüllt bleiben.

 

Heute vor einem Jahr bekamen wir das erste Mal eine negative Diagnose über unser Kind. Und mit der Diagnose begann eine Gedankenspirale, tausende Gedanken und Sorgen, immer wiederkehrende Vorstellungen, an ein Leben, vor dem man unendlich Angst hat, es leben zu müssen.

 

Wir würden vielleicht ein behindertes Kind bekommen.

Vielleicht würde unser Kind sein Leben lang schwer krank sein.

Womöglich würde es nicht viel von seiner Umwelt mitkriegen.

Vielleicht würde es uns Eltern niemals erkennen, nie Mama und Papa sagen können.

Vielleicht würde es nie gehen können, nie herumtoben können mit anderen Kindern.

Vielleicht würde es von uns zu Hause betreut werden müssen, vielleicht müssten wir es ein Leben lang pflegen.

Vielleicht würde es nur durch Maschinen, Schläuche und Medikamente am Leben erhalten werden.

Vielleicht würden wir unser Leben ab jetzt in Krankenhäusern verbringen.

Vielleicht würde unser Kind im OP liegen, während wir zu Hause nicht wissen, wo oben und unten ist.

Vielleicht würden wir ein Kind großziehen müssen, von dem man weiß, jeder Tag könnte sein letzter sein.

Vielleicht würden wir unser Kind jeden Abend im Krankenhaus zurücklassen müssen und zu Hause ohne es einschlafen müssen.

Vielleicht würde dieses Kind auch schon bald sterben.

Vielleicht schon im Mutterleib.

Vielleicht müsste ich es still gebären.

Vielleicht würde es auch tot auf die Welt kommen.

Vielleicht würde ich es nie lebendig im Arm halten.

Vielleicht würde es lebend auf die Welt kommen, aber schon bald in meinen Armen sterben.

Wie sehr hatte ich Angst vor diesem Tag, sollte er jemals eintreffen.

 

Ich hatte keine Ahnung, wie man so etwas verkraften soll.

Wie man es aushalten soll ein Kind im Bauch zu haben, dabei zuzusehen wie es wächst und sein Herz schlägt, wie es leben will und kämpft, doch man schon bald dabei zusehen muss wie es diesen Kampf verliert?

 

Ich wusste nicht, wie man den Tag überstehen soll, an dem sein eigenes Kind seine letzten Atemzüge macht. Und wie man dann einfach weiterleben soll.

 

Es ist das erste Mal, dass dieser Tag sich jährt. Der Tag, der uns konfrontiert hat, mit den größten Ängsten aller werdenden Eltern. Und er wird sich immer wieder jähren, wie so viele andere Tage, die stillen Jahrestage, vor denen wir Angst haben, sie erleben zu müssen. Sie werden immer wieder kommen, wie die Zeiger einer Uhr, die immer wieder von Neuem an die selbe Position gelangen, oder wie der Winter, der uns jedes Jahr mit seiner Kälte von Neuem heimsucht.

 

Es sind die Jahrestage, die sich niemand wünscht. Die Jubiläen, die niemand feiert. Denn die Menschen feiern die Lebenden und nicht die Toten.

 

Und er wird mit Sicherheit kommen, dein erster Geburtstag, aber er wird so anders sein, als alle anderen ersten Geburtstage. Die mit den Cupcakes und den Luftballons, den Kinderliedern und den fröhlichen Gesichtern. Und wir werden ihn feiern, auf unsere ganz eigene und spezielle Art, wir werden ihn feiern und über dich reden, wir werden lachen, über die Situationen und die Stunden und Tage und Wochen, die du für uns so besonders gemacht hast.

 

Als ein Tag aus einer Reihe von stillen Jahrestagen, über die wir auch glücklich sein können, ganz anders als über diesen heutigen Tag, der uns heimsuchte, genau vor einem Jahr, damals im Oktober.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Beatrice (Dienstag, 10 Oktober 2017 14:52)

    Fühl Dich umarmt, liebe Jasmin. Ich denke, die gehören alle gefeiert, die stillen wie die lauten Feste. Es darf geweint, gelacht, erinnert werden.

    Herzlichst

    Beatrice

  • #2

    Jasmin (Mittwoch, 11 Oktober 2017 19:04)

    Hallo Liebes...ich mag deine Ehrlichkeit, deinen Mut und deine Zuversicht. Ich spüre liebe in jedem deiner Worte!
    Der Tag der alles ändert war bei uns der 28.7.2017... heute, 10 Wochen später, schlägt das Herzchen nicht mehr und wir warten auf die Geburt... .