Seit fast sechs Wochen dreht die Welt sich weiter, obwohl man das Gefühl hat, sie müsste eigentlich stillstehen. Die Sonne ist vierzig mal aufgegangen und wieder untergegangen. Wir sind vierzig mal aufgewacht, mit dem Wissen heute nicht mehr ins Krankenhaus zu fahren und das kleine Menschlein zu besuchen, das uns auf der Welt das Wichtigste ist. Wir sind vierzig Mal eingeschlafen, in einem Zimmer voller Fotos, Babygewand, das niemand mehr trägt und Kerzenlicht, das vierundzwanzig Stunden scheint. Seit fast drei Wochen ist es ein anderer Weg, den wir nehmen, wenn wir ins Auto steigen. Wir fahren in eine völlig andere Richtung der Stadt. An einen Ort, wo niemand spricht. Unter Baumkronen, die sich langsam gelb und orange färben, fliegen manchmal kleine Schmetterlinge in allen Farben. Manchmal landen sie am Boden, ganz in unserer Nähe, als schickten sie uns eine Botschaft. Dann möchten wir so gerne eine Botschaft zurückschicken. Es geht nicht mehr, dass wir sie flüstern, die ganzen Liebeserklärungen, in sein kleines Ohr. Als wir so gerne an seinem Bettchen standen. Jetzt schreiben wir Briefe und Postkarten, adressieren sie an seinen Namen und an die Orte, die wir mit ihm verbinden. Jetzt erzählen wir Geschichten, den Leuten, die ihn nicht kannten und wir zeigen die Bilder, die sich nicht nur auf unsere Netzhaut brannten, sondern ins Herz. Wir wahren die Erinnerungen, an ein Kind, das uns zur Familie machte und uns für immer eine Familie sein lässt.
Die ersten vier Wochen war ich wie im Schock. Es war immer die selbe Frage, die ich mir tausend mal stellte. Wieso muss mir so etwas passieren? Wieso muss ich mein Kind beerdigen, während alle anderen ihre Kinder bei sich haben und sie aufwachsen sehen dürfen? Warum kann ich mein Kind nur mehr am Grab besuchen, wenn ich Sehnsucht nach ihm habe, während alle anderen Tag und Nacht bei ihren Kindern verbringen dürfen? Warum reden alle von der schönsten Zeit ihres Lebens und für mich ist es die schlimmste?
Nach vier Wochen veränderte sich die Art meiner Gedanken und meiner Traurigkeit. Sie wurde nicht besser, sie wurde schlimmer, realer. Es ging mir nicht mehr um die ständige Frage, wie ich so ein Schicksal verdient hatte und den Vergleich mit anderen. Der erste Schockzustand war vorbei. Es ging mir plötzlich nur mehr um eines. Mein Kind ist nicht mehr da. Es geht mir um ihn, und um mich. Es geht mir um das Gesicht, das ich nicht mehr sehen werde, um die Hand, die ich nicht mehr halten werde. Um das Weinen, das ich nicht mehr hören werde und die kleinen Härchen, die ich nicht mehr streicheln werde. Den Duft, den ich nicht mehr riechen werde. Nie mehr.
Die Zeit heilt alle Wunden sagt man. Diese Wunden heilt auch nicht die Zeit, sagen andere Mütter, die ihre Kinder vor Jahrzehnten verloren haben. Und auch in mir ist eine Wunde, als fehlt mir das Herz, als fehlt mir alle Hoffnung.
Wie das Leben weitergehen soll fragt man sich? Eine Antwort auf das Wie gibt es nicht. Es geht weiter. Die Welt dreht sich weiter, auch wenn einer fehlt.
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Beatrice (Sonntag, 03 September 2017 15:07)
Liebe Jasmin, denke ganz oft an euch und schicke euch heilende und wärmende Gedanken. Ich wünsche euch, dass ihr Kraft schöpft aus eurem Miteinander SEIN. Bastian wird immer ein Teil davon sein. Seid ganz herzlich umarmt und melde Dich, wenn Du etwas brauchst. Herzlichst Beatrice
Jasmin (280 Tage Bauchgefühl) (Sonntag, 03 September 2017 18:12)
Liebe Bea!
Danke, dass du mir schreibst, ich freue mich jedes Mal! Es ist sehr lieb von dir, dass du an uns denkst! Danke für deine positiven Gedanken und deine Umarmung!! Ganz liebe Grüße von uns beiden!!
Elke (Montag, 04 September 2017 00:37)
Liebe Jasmin,
gerade sitz ich hier und die Tränen laufen. Für diesen Verlust gibt es keinen wirklichen Trost. Ich habe zwei gesunde Jungen, nur bin ich sehr krank. Aber es gibt nichts schlimmeres als ein krankes Kind oder diesen Verlust. Lieber wäre ich 10 mal krank, als eines meiner Kinder. Ich kann nur auf die Ärzte vertrauen und hoffen, daß das Schicksal mich meine Buben aufwachsen sehen lässt.
Deshalb wünsche ich dir, was ich auch mir wünsche. Heilende Tränen die die wunde Seele beruhigen, Kraft den nächsten Tag anzugehen, Mut trotz allem ein gutes Leben zu führen, gute Freunde um einen zu stützen und Hoffnung auf ein gnädigeres Schicksal in der Zukunft. Gib nicht auf.
Liebe Grüße
Elke
Tanja (Montag, 04 September 2017 12:16)
Hey Jasmin,
ich fühle mit dir!
Ich habe es drei mal innerhalb von nur 8Wochen mit gemacht.
Als ich meine Drillinge ziehen lassen musste!
Fühl dich ganz feste gedrückt! Unsere Mäuse spielen auf der Regenbogen wolke, und warten und beschützen uns! :*
Jasmin (280 Tage Bauchgefühl) (Montag, 04 September 2017 17:53)
Liebe Elke! Ich danke dir für deine berührenden Worte & Wünsche, die so tröstlich klingen. So viele nehmen die eigene Gesundheit oder die seiner Kinder für selbstverständlich, dabei ist sie ein Geschenk. In dem wir so offen darüber reden, machen wir das vielen Menschen bewusst, denke ich. Auch ich kann mein Schicksal nicht ändern, aber was ich immer noch machen kann, ist anderen die Augen zu öffnen, für das was im Leben das Wichtigste ist. Du hast so schöne Worte gefunden, ich wünsche dir das alles auch von Herzen, vor allem aber viele gemeinsame Jahre und Momente mit deinen Liebsten -denn es gibt nichts Wertvolleres- und dass du es schaffst, deine Krankheit zu besiegen! Alles Liebe an dich!! Jasmin
Jasmin (280 Tage Bauchgefühl) (Montag, 04 September 2017 18:00)
Liebe Tanja! Danke, dass du mir schreibst!! Es tut mir sehr leid, dass du deine drei kleinen Schätze auch gehen lassen musstest!! Ich wünsche mir immer, dass sie alle gemeinsam an einem sehr sicheren und schönen Ort sind! Mein Gefühl sagt mir aber immer, dass es meinem Kleinen dort gut geht, wo er jetzt ist! Ich wünsche dir ganz viel Kraft und schicke dir eine Umarmung! Alles Liebe, Jasmin