Verdrehte Welt

 

Falsch. Falsch. Falsch. Das Wort spukt in meinem Kopf wie ein unheilvolles Echo in einer menschenleeren Landschaft. Es ist Dienstag, 12. September 2017. Vor einem Jahr um diese Zeit, da wusste ich bereits von der Existenz des heranwachsenden Lebens in meinem Bauch. Unbeschwertheit, Hoffnung, Freude, Vorstellungen, Träume, das alles erfüllte meine Welt.

 

Ein Jahr später, im Nachhinein ein Wimpernschlag, doch auch schier eine Ewigkeit. Draußen fühlt es sich bereits nach Herbst an. Mein erster Arbeitstag seit dem Tod meines Kindes. Ein neuer Job in einer völlig neuen Umgebung. Menschen, die nichts davon ahnen wie das letzte Jahr in meinem Leben ausgesehen hat. Die meine betrübten Blicke nicht verstehen, die nicht wissen, warum ich nicht so oft lache. Aber es gibt einen Grund für das Ganze, einen Grund, den ich meistens nur in meinen Gedanken formuliere.

 

Eigentlich sollte ich jetzt etwas völlig anderes tun, denke ich dann. Ich sollte zu Hause sein und auf mein Kind aufpassen. Mit meinem Baby im Bett liegen, es füttern, versuchen es zum Schlafen zu bringen. Mit ihm im Kinderwagen durch die Gegend fahren, so wie all die anderen Mütter, die mir tagtäglich auf den Straßen begegnen, die Mütter, die gleichzeitig mit mir schwanger waren.

 

Alles in mir schreit nach Mamasein, jetzt wo ich versuche eine Aufgabe zu erfüllen, in ein Raster zu passen, in einen Alltag zu finden, der für mich so weit entfernt ist wie Moskau von Wladiwostok. Meine Seele und mein Herz schreien nach meinem Kind. Und doch bin ich auf einem völlig anderen Weg gelandet, es ist ein völlig anderer Ort, wo ich jetzt bin und vor mir steht eine völlig neue Aufgabe. Als wäre ich vor einem Jahr voller Erwartungen ins Paradies gereist und stattdessen auf dem Mond gelandet.

 

"Kinder haben Sie keine", sagt man zu mir, während man an meinem ersten Arbeitstag ein Formular für mich ausfüllt. Ein Satz wie Nadelstiche in mein sowieso schon wundes Herz. Es ist bereits das dritte Mal, dass ich seit dem Verlust meines Kindes auf diese Frage im Züge bürokratischer Notwendigkeiten stoße. Vor den Kopf gestoßen, das erste Mal elf Tage nach dem Sterbetag meines Buben, den ich doch vor drei Monaten erst zur Welt gebracht hatte. Was schreibt man in einer solchen Situation dachte ich?

 

Null, füllte ich aus. Null. Keines. Nicht existent. Kein Kind um das ich mich neben der Arbeit noch kümmern muss. Keine Verpflichtungen. Null, obwohl ich doch vor kurzem noch einen kugelrunden Bauch mit mir herumtrug und mich eine Narbe auf meinem Bauch täglich daran erinnert, dass alles doch kein Traum war. Für die Welt existiert mein Kind nicht mehr. Ich schrieb die Zahl in das Feld.

 

Zu Hause ärgerte ich mich nicht nur über die Frage auf dem Formular, sondern vor allem über mich selbst. Ich habe doch ein Kind. Einen kleinen Buben. Er heißt Bastian.

 

Neun Monate trug ich ihn unter meinem Herzen. Manchmal trat er mich ganz sanft, um mir zu zeigen, dass er trotz allen Prognosen immer noch bei mir war und dass er leben wollte. Als er bei 38+5 per Kaiserschnitt geholt wurde, war er 1930g schwer und 42 cm groß. Seine Haare waren blond, mit einem leicht rötlichen Einschlag. In der Nacht schlief er nicht gern. Er hatte mehr Temperament und Kampfgeist als ich es bei einem gesunden Kind je gesehen hatte. Wenn man sich ganz leise an sein Bettchen näherte, merkte er es, auch, wenn er gerade geschlafen hatte.

 

Ich könnte tausend Sätze schreiben, über mein Kind, das viel zu kurz bei uns war und das mir trotzdem näher ist als die meisten Lebenden. Auch wenn bereits acht Wochen nach seinem Tod manch einer einen Mythos aus ihm macht, ist er für mich immer noch genauso existent, spürbar und bedeutsam wie für jede Mama ihr Kind. Oft fallen Sätze wie "Ich wollte deine Wunden nicht aufreißen", oder "Entschuldige, ich wollte dich nicht daran erinnern". Dann entgegne ich: Bitte redet über mein Kind, lasst es nicht vergessen sein. Stellt mir Fragen. Gebt mir das Gefühl, dass mein Kind wirklich am Leben war und dass es wichtig ist.

 

Seit acht Wochen kaufe ich Grabkerzen anstatt Babysachen. Wenn ich eine Babyabteilung betrete, dann nur mehr, um Sachen für Freundinnen zu kaufen, die ihr Baby an der Hand halten und nicht nur wie ich, im Herzen. Kinder, die für die Gesellschaft existent sind und kein Phantom so wie meines. Wenn jemand in meiner Nähe von seinen Kindern spricht, versuche ich die Gefühle über meinen eigenen Verlust ein paar Meter weg zu katapultieren. Ich versuche mich nicht ständig mit anderen, glücklichen Müttern zu konfrontieren. Ich folge nicht mehr den selben Personen auf Instagram, wie ich es noch vor ein paar Wochen getan habe, ich isoliere mich von Schwangeren und Müttern mit Babys, die so alt sind wie meines und denen, die keinen Verlust erfahren haben. Ich schütze mich in einer Welt, die mir gerade so wenig Schutz bietet.

 

Auf unserem Nachtkästchen steht eine Karte mit Bastians Fußabdruck.

"Lieber Bastian", steht da. "Der Herr behüte dich & deine Seele vor allem Übel dieser Welt. Erhalte dir deine Stärke".

 

Als ich die Karte, die wir zu Bastians Taufe bekommen haben, ein paar Wochen nach seinem Tod wieder lese, laufen mir die Tränen über meine Wangen. Du bist kein Phantom und kein Mythos. Kein Traum, keine flüchtige Begegnung. Die Menschen kannten dich, sie kennen dich, sie erinnern sich an dich. Es gibt nichts, was mir momentan mehr Trost spendet.

 

Die Menschen suchen so lange nach ihrer Lebensaufgabe, nach dem Sinn ihres Lebens. Du hast mir diesen Sinn gezeigt, du hast mir alles offenbart. Ich werde Zeit meines Lebens die Verbindung zwischen dir und den Menschen aufrecht erhalten.

 

Lieber Bastian, ich werde dafür sorgen, dass du nicht vergessen wirst.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Hannah (Sonntag, 17 September 2017 19:27)

    Liebe Jasmin,

    Seitdem ich weiß, dass Euer kleiner Engel nicht mehr bei euch ist, muss ich sehr oft an dich denken - und kämpfe immer noch jedes Mal mit den Tränen.
    Ich frage mich, wie man die Kraft aufbringen soll, einfach weiter zu leben, wenn das eigene Kind nicht mehr lebt und ich bewundere deine Stärke und deine Kraft. Du nimmst diesen Kampf auf, jeden Tag, musst einen Weg weiter gehen, der steiniger und härter kaum sein könnte...du gönnst dir keine schonung und Verdrängung, sondern hälst deinen schmerz mit deiner Erinnerung wach. Alles nur, um deinem Kind nahe sein zu können, weil die Erinnerungen und die Liebe in deinem herzen die einzige Art der Nähe sind, die dir geblieben sind. Dein kleiner junge wird immer bei dir sein und er kann unendlich glücklich und stolz darauf sein, dass er dich zur mutter hat. Du wirst immer seine Mutter bleiben. Ich denke an dich und wünsche dir weiterhin viel Kraft.

  • #2

    Jasmin (280 Tage Bauchgefühl) (Montag, 02 Oktober 2017 09:25)

    Liebe Hannah! Es ist so lieb, dass du mir wieder schreibst! Ich freue mich sehr über dein liebes Kommentar und deine Worte! Vielen lieben Dank dass du oft an uns denkst und mit uns so mitfühlst!!! Es ist wirklich wichtig für mich die positiven und schönen Erinnerungen an Bastian und die Liebe zu ihm aufrecht zu erhalten, das ganze gibt mir Kraft! Ich schicke dir ganz liebe Grüße!!!