Am Samstag, 22. Juli, übersiedelte unser kleiner B. mitsamt seinem Bettchen, begleitet von einer Krankenschwester, einem Arzt und uns von der NICU zurück auf die IMC. Die NICU quoll momentan aus allen Nähten und B. ging es die letzten Tage für seine Verhältnisse richtig gut. Eine Übersiedlung zurück auf die IMC war schon länger geplant und sobald ein Platz dringend benötigt würde, wäre nun B. - der laut Ärzten aktuell Stabilste aller Patienten - an der Reihe. Samstag Vormittag bekamen wir einen Anruf, dass es heute um die Mittagszeit so weit wäre und B. wieder auf die IMC Station verlegt werden würde. Nachdem mich die Nächte auf der IMC und das Gefühl im Krankenhaus festzusitzen das letzte Mal an meine körperlichen und psychischen Grenzen gebracht hatten, entschied ich mich diesmal gegen den Aufenthalt im Mutter-Kind-Zimmer. Erst falls das Nachhausegehen mit B. unmittelbar absehbar wäre, würde ich mich wieder mitaufnehmen lassen, um die täglichen Abläufe rund ums Medikamente verabreichen, den Umgang mit der Essenspumpe und die Handhabung mit der Sauerstoffbrille beherrschen zu können.
B. übersiedelte also an besagtem Samstag wieder auf die IMC, diesmal in ein Zimmer gemeinsam mit einem Frühgeborenen. Am Samstag verlief alles reibungslos. Und auch am Sonntag, als mein Freund so wie jeden Tag morgens im Krankenhaus anrief, war alles in bester Ordnung. B. hatte zwar eine eher unruhige Nacht gehabt, sein Sauerstoffbedarf war jedoch nur bei 25% und er erreichte damit eine gute Sauerstoffsättigung. Es war also ein gutes Gefühl, mit dem wir die IMC Station am Samstag, 23. Juli um etwa 11 Uhr betraten.
An B.s Bett stand bereits eine Krankenschwester, die ihm Blut für ein Blutgas abnahm, worüber wir etwas überrascht waren. Normalerweise wurde dies vor allem auf einer IMC Station nicht so regelmäßig kontrolliert, wie auf einer Intensivstation. Außerdem gab es unserer Meinung nach keinen Anlass dafür. Die Sauerstoffsättigung von B. war immer noch super. Er benötigte nach wie vor nur wenig Sauerstoff und sättigte für seine Verhältnisse richtig gut.
"Wir müssen das Blutgas noch einmal wiederholen. Diesmal nicht über den Katheter, sondern wir müssen ihn stechen, um zu kontrollieren, ob die Werte vom Blutgas wirklich so stimmen."
Das erste Mal an diesem Sonntag Vormittag kommt bei mir und meinem Freund Unbehagen auf. Außerdem gefällt es uns nicht, dass B. gestochen werden muss. Auch die zweite Blutgas-Probe wird zur Untersuchung gebracht.
Ab da ist alles wie im falschen Film.
Ein Arzt erscheint.
B. habe extrem hohe CO2 Werte im Blut (d.h. das Atmen ist für Ihn extrem anstrengend) und auch einige andere Werte scheinen komplett außer Kontrolle geraten zu sein. B. muss sofort einige Infusionen bekommen und so schnell wie möglich von der Sauerstoffbrille an den Infant Flow (eine Art Sauerstoffmaske, die ihm das Atmen erleichtern soll). Ab diesem Zeitpunkt wird etwa stündlich ein neues Blutgas gemacht, aber nichts verändert sich.
Es sind die Worte, die wir um etwa 20 Uhr an diesem Tag, an dem wir B.s Zimmer nicht ein einziges Mal verlassen haben, zu hören bekommen und die uns zu wissen geben, der Moment, vor dem wir uns so lange gefürchtet haben, könnte uns womöglich kurz bevorstehen.
"Das Blutgas verbessert sich auch trotz Infant Flow nicht. Wenn es für Sie in Ordnung ist, würden wir B. jetzt von den intensivmedizinischen Therapiemöglichkeiten zurücknehmen . Wir hätten
auch ein freies Mutter-Kind-Zimmer, dann hätten Sie die Möglichkeit die Nacht dort zu dritt zu verbringen."
Das. Darf. Nicht. Wahr. Sein.
Ich weiß, was dieser Satz bedeutet.
"Die Hoffnung stirbt zuletzt", sagt man so schön. Man bekommt Prognosen über die Lebenserwartung seines Kindes, aber man klammert sich an einer Reihe von möglichen Perspektiven fest, um nicht komplett an dieser Vorahnung zu Grunde zu gehen. Es gibt diese Kinder, die so manche Prognosen nicht wahr werden lassen und jenseits jeglicher Lebenserwartungen immer noch leben. Bitte lass mein Kind eines dieser Kinder sein.
Es wird keines dieser Kinder sein. Ich werde bald keine Mama mehr sein. Ich bin doch die Mama eines behinderten Kindes, ich muss dieses Kind verteidigen, ich muss die Individualität meines Kindes in der Gesellschaft leben, ich werde keinen Urlaub mehr haben, ich werde vielleicht nicht mehr arbeiten gehen können, ich werde keine Nacht mehr durchschlafen können. Mein Leben wird nie wieder so sein wie es einmal war. Aber ich will dieses verdammte Leben. Ich will doch nur dieses Kind.
Ich war bereit, jeden Preis dafür zu zahlen.
Und jetzt wird es mir genommen.
Doch Aufgeben ist nicht unsere Art. Es gibt noch die Möglichkeit, dass B. über die Nacht wieder zurück auf die NICU käme. Dort gäbe es noch eine andere Möglichkeit, um seine Sauerstoffversorgung zu unterstützen, die auf der IMC nicht möglich wäre. Damit könnte sich der CO2-Gehalt wieder regulieren. Es ist unsere letze Chance. Wir stimmen zu.
In dieser Nacht bekommen wir die Möglichkeit zwei Stockwerke über der NICU die Nacht zu verbringen. Wenn B.s Zustand sich noch weiter verschlechtern würde, wären wir so schnell wie möglich bei ihm. Wir schalten unsere Telefone auf besonders laut und haben jede Sekunde, in der wir nicht schlafen können, Angst davor, dass das Telefon jeden Moment läuten würde. Doch der gefürchtete Anruf bleibt aus. Dies könnte doch ein gutes Zeichen sein, denken wir. Vielleicht hatte B.s Zustand sich stabilisiert.
Als wir die NICU am Montag früh betreten, wissen wir, dass dem nicht so ist. B sättigt trotz 100% Sauerstoff über den Infant Flow nicht gut. Mehr Sauerstoffunterstützung geht nicht. Die Ärzte sehen davon ab B. zu intubieren, das haben sie uns schon vor Wochen gesagt.
Wir werden zu einer letzten Gesprächsrunde gebeten. B. wurde in der Früh genaustens untersucht. Er sei organisch am Limit angekommen. Sein kleiner Körper, gerade einmal 3,20kg schwer und 13 Wochen alt, sei an seine Grenzen angelangt.
Um 17 Uhr findet eine Nottaufe im Kreise unserer Familie statt. Ein Fotograf von dein-sternenkind.eu hält die letzten, wertvollen Momente mit B., unseren Familienmitgliedern und uns, seinen Eltern, für die Ewigkeit fest. Um 2:15 Uhr macht sein kleines, für mich so perfektes Herzchen in meinen Armen seine letzten Schläge, bevor unser kleiner Engel seinen kranken Körper für immer verlassen, und seine Flügel ausbreiten darf.
Am 5. August 2016 nistete sich ein kleines, besonderes Menschlein in meinen Bauch ein. Es begleitete unser Leben für 354 Tage. Es lehrte uns zu weinen, zu lachen, doch vor allem zu lieben. Es brannte sich in unsere Herzen, in unsere Netzhaut, in unsere Gedanken. Es veränderte unsere Einstellung, unsere Weltanschauung und unseren Umgang mit der Welt.
Mein Schatz, wir danken dir so sehr, dass du da warst. Du warst trotz allem das Beste, was uns passieren konnte.
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Sandra Roos (Samstag, 12 August 2017 22:55)
Ich bin gerade durch Zufall zu diesem Bericht gekommen und vermag mit Worten nicht ausdrücken, wie bewegt ich bin. Ich schicke eurer Familie undendlich viel Kraft, diesen Schicksalsschlag z überstehen, schaut euch eure Bilder an, schwelgt in Erinnerung an diese kurze, intensive Zeit und ich wünsche euch, dass ihr irgendwann wieder in ein Leben zurückkehren könnt, dass immer mehr "Normalität" zulassen kann.
Mein herzlichstes Beileid,
Sandra
Jasmin (280 Tage Bauchgefühl) (Sonntag, 13 August 2017 16:58)
Liebe Sandra! Ich danke dir für deine herzlichen Worte! Ich hoffe auch, dass sich unser Leben irgendwann wieder wie Normalität anfühlt, auch wenn es wohl nie wieder so unbeschwert sein wird, wie es einmal war!
Ganz liebe Grüße,
Jasmin
Beatrice (Montag, 14 August 2017 19:19)
Liebe Jasmin, bin tief berührt, bin traurig mit euch und zugleich froh, dass es euch gibt. Ich bewundere euch und wenn ihr etwas braucht lasst es mich wissen. Eine herzliche Umarmung für Dich, Michael und Bastian Bea
Jasmin (280 Tage Bauchgefühl) (Freitag, 18 August 2017 09:02)
Liebe Bea!
Es freut mich immer, wenn du mir schreibst!! Vielen Dank für deine Unterstützung & deine lieben Worte!!
Ganz liebe Grüße an dich!!